In der Arbeit für das Buch “Wege durch die Angst” bin ich auf einen wegweisenden Text aus dem Jahr 2013 gestoßen. Er zeigt plastisch, wie wichtig es in dieser Übergangszeit ist, den gesellschaftlich vorgegebenen Rahmen zu überschreiten . Andernfalls - und das hat die Coronazeit überdeutlich gemacht und ist auch jetzt in aller Fürchterlichkeit zu sehen - ist man gezwungen, jede noch so widersinnige Bewegung mitzumachen, ohne wahrnehmen zu können, wie lebensfeindlich “wir” unterwegs sind. Die gute Nachricht: es ist nie zu spät, die eigenen Wurzeln durch den gesellschaftlichen Topfboden zu stoßen. Die nächste Gelegenheit dazu ist immer: Jetzt.
Selbstübereinstimmung
I Aus der Weite in die Enge
Die Geschichte lässt sich so erzählen: Unser Eingeborenwerden in diese Welt ist in einem ganz praktischen Sinn die Verkörperung einer Verbindung von Kosmos und Erde. Dabei durchqueren wir eine Schwelle und kommen in eine Gesellschaft, die diesen größeren Zusammenhang weitgehend vergessen hat. Kinder sind keine unbeschriebenen Blätter, aber sehr empfänglich für die vorgelebten Geschichten, mit denen wir die Welt be-schreiben. Diese stecken den Rahmen der anerkannten Wahrnehmung ab, in dem wir stecken und dieser Rahmen ist uns mittlerweile so eng geworden, dass er destruktiv wird – wie etwa ein viel zu kleiner Topf mit wenig Erde für eine Sonnenblume.
Das Licht der Welt in dieser Weise zu erblicken blendet uns, in dem unsere weitere Einbettung ausgeblendet wird. So stranden wir mit unserer Wahrnehmung in einem kleinen Ausschnitt einer viel größeren Wirklichkeit, wodurch unsere kollektiven Geschichten von Angst durchwirkt sind und auch so wirken: Sie / Wir machen uns Angst. Wir sind scheinbar ständig in Gefahr die Grundlagen unserer Existenz zu verlieren und werden von Geschichten der Knappheit in einen Kampf gegeneinander getrieben, der unserer Natur nicht entspricht. Aus diesem Spannungsfeld haben wir „Games“ entwickelt, unspielerische Spiele, Muster von Verteidigung, Angriff und unsicheren Zusammenschlüssen. Aus dem Gefühl von Abhängigkeit und bei gleichzeitigem Misstrauen gegenüber dem und denen, von denen man abhängig ist oder abzuhängen scheint, entstehen Fluchtwünsche und folglich Ersatzbefriedigungen, also Süchte, also – Abhängigkeiten, die wiederum Schuld- und Schamgefühle nähren und damit den Teufelskreis am Laufen halten.
Solange wir auf diesem begrenzten Spielfeld verbleiben, sind wir kaum in der Lage wirklich andere, lebendige, liebevolle Spiele zu spielen. Wir müssen, bildlich gesprochen, den Blumentopfboden durchstoßen, um tiefer zu wurzeln und damit wieder in den Himmel wachsen zu können. (Josef Haders Lied „Topfpflanzen bitte geht’s spazieren“ kommt mir da in den Sinn.).
Die vorherrschenden Geschichten versprechen eine Sicherheit, die sie nicht einlösen können. So sehr wir in diesem Rahmen versuchen dazuzugehören, ganz in der Mitte anzukommen, um nicht mehr herausfallen zu können – es gelingt uns nicht, es gelingt niemandem, der Games von Manipulation, Kontrolle und gewinnen auf Kosten der anderen „spielt“. Es kann nicht gelingen, weil unsere Zugehörigkeit eine andere ist. Weil wir nicht (nur) diesem gesellschaftlichen Rahmen angehören, sondern zu einem größeren Zusammenhang. Sich auf diesen Zusammenhang wieder einzuschwingen bedeutet, das eigene Lied wieder zu erlauschen und singen zu lernen und bei der Lautstärke, mit der wir uns die Angstgeschichten erzählen, ist das eine ganz schöne Aufgabe.
II Aus der Enge in die Weite
Meist braucht es ein Scheitern, um uns dazu zu bewegen, unseren eng gewordenen Blumentopf zu verlassen, auch wenn es unsere Sehnsucht nach wirklicher Beheimatung ist, die uns letztlich dazu befähigt. Immer mehr Menschen fallen aus dem als normal definierten Rahmen, freiwillig oder unfreiwillig und erweitern ihn dadurch. Dieses Fallen kann von Gefühlen der Angst, der Leere und der Euphorie begleitet sein, letzteres vor allem dann, wenn der Schritt bewusst gesetzt wurde oder im Nachhinein als der eigenen Entfaltung dienlich angenommen werden kann, ganz gleich ob es sich um das Ende eines Arbeitsverhältnisses, einer Beziehung handelt oder um Krankheit oder das Verlassen oder Verlieren eines Ortes, eines Umfeldes, eines Glaubens, einer Gewissheit, eines Menschen, einer Funktion...
Dem eng gewordenen Strukturen entledigt, verlieren wir Halt und gewinnen Entfaltungsraum. Haltung als Ausdruck eines inneren Gehaltenseins muss sich meist erst entwickeln, in einem Prozess des Reifens. Wenn wir dabei nicht in Lähmung verfallen, kommen wir manchmal in ein jugendliches Lebensgefühl des „sturmfrei habens“ und verwechseln jeden spontanen Impuls mit einer Eingebung und trampeln auf der Suche nach unserem Platz durch die Beete anderer, hetzen von hier nach dort, um ja nichts zu versäumen.
Meine Befreiungsbewegungen habe ich oft als anfänglich reaktiv erlebt, als einen kräftigen inneren Impuls, mich einer Zumutung oder Beschneidung nicht zu beugen, beispielsweise als die Zivildienstbehörde mir vor vielen Jahren nicht zugestehen wollte, meinen Platz selbst zu wählen, war das mein Auslöser einen Friedensdienst in Kroatien zu wählen.
III Reifen
Mehr und mehr komme ich auf diesem Weg dazu, bewusst zu wählen und mit Leib, Hirn und vor allem Herz zu prüfen, was zu mir passt und was nicht. Es geht dabei darum, die Verantwortung für mein Erleben zu übernehmen und das als meine Freiheit zu begreifen. Was tut mir wirklich gut, was nährt mich in meinem ganzen Wesen? Diese und ähnliche Fragen helfen das Sensorium zu verfeinern, mit dem ich durch das Leben navigiere. Ein herausfordernder Entwirrungsprozess, der allmählich neue Strukturen hervorbringt, Strukturen, die klar sind und fließend und einfach zugleich, Strukturen, die meine Anwesenheit verlangen, mein waches Dasein, was gerade nicht heißt, ständig zu tun und zu arbeiten und zu kommunizieren. Die Gestaltung von Erholung, Kontemplation, Ruhezeiten erweist sich als ein ganz zentraler Punkt in diesem Prozess. Der Rhythmus besteht aus ein- und ausatmen und den mir gemäßen Rhythmus zu finden, ist das eigentliche Ziel. Die Freiheit liegt darin, mit mir selbst übereinzustimmen – auf diese Weise schwinge ich mit dem größeren Ganzen mit und werde bewusster Teil dieser Symphonie. Dieser Weg aus den vorgegebenen Strukturen hinaus, hinein in eine stärkere Selbstübereinstimmung und Einbettung in größere Felder macht uns, meinem Verständnis nach, erst reif für echte Kooperation mit anderen. Ich muss dabei meine Eigenart finden und entwickeln, meine Art zu arbeiten, meine Art zu lieben, meine Art zu wohnen, meinen Zugang zur Natur, meine Art des Essens, meine Spiritualität, mein Vatersein, mein Spielen...
IV Zusammenspiel
Diese „Entfernung von der Truppe“ (Heinrich Böll) erfordert Mut und stößt anfangs meist auf inneren und äußeren Widerstand. Es ist ein Läuterungsprozess, der durch die eigenen Schatten führt, Schreckgespenster, Einsamkeiten, Ungeliebtsein, Nachtwälder und Wüsten...
Aber was für ein Geschenk ist es, mit Menschen zu tun zu haben, die wirklich für sich stehen können und keine oder wenig „Games“ mehr nötig haben! Was für ein Geschenk ist es, allmählich solch ein Mensch zu werden! Für mich ist es ein eigenständiger und gemeinsamer Prozess, bei dem sich immer klarer zeigt, was und wer wie zusammenpasst. Es ist ein Prozess des Ja und des Nein sagen Lernens, ohne Aufregung und Getue. Es geht dabei nicht um gewinnen oder verlieren, sondern darum, zu sich selbst zu kommen und sich gegenseitig dabei zu helfen. Wir sind uns dabei Modell – nicht zur Nachahmung, sondern zur Anregung der in uns angelegten Einzigartigkeit.
Gesellschaftlich sind wir in einer Übergangsphase, von überbordenden Regulierungen und gleichzeitige Verlust von Ordnungen, hin zu einer Selbstregulation. Dazu braucht es Menschen, die sich selbst spüren und mit ihrer inneren Führung verbunden sind, damit wir uns neu und freier begegnen und verbinden können. Damit das Soziale wieder „in Ordnung kommt“, müssen wir mit einer zugrundeliegenden kosmisch-irdischen Ordnung in Einklang kommen. Das ist wirkliche, glückhafte Freiheit und sie entsteht durch Selbstliebe und Aufmerksamkeit für die elementaren Dinge des Lebens.
V Bewusstsein als Freiheit
Das Sichlösen aus der Matrix der alten Geschichten geschieht durch die Erhöhung der Bewusstheit, ein Prozess, der Geduld erfordert, da diese Matrix etwas magnetisch Anziehendes hat. Erhöhte Bewusstheit heißt für mich, ein immer weiteres Bild wahrnehmen zu können und in diesem Bild bewusst wählen zu können, was und wem ich meine Aufmerksamkeit schenke. Ja, auch welchen Konflikt in- und außerhalb von mir ich als lohnend empfinde und welchen nicht. Das ist ein Lernen und zum Lernen gehört scheitern, auch immer wieder scheitern, selbstverständlich dazu.
Freiheit ist ein Geschenk, das man wählen muss.
[Erstveröffentlichung 2013 in TAU – Heftthema „Strukturen der Freiheit“]