Seit Tagen „laboriere“ ich daran, wie ich eine frische Erkenntnis in Worte kleiden kann. Die Einsicht bleibt klar und wohltuend, aber die passenden „Kleider“ wollen sich nicht einfinden oder fühlen sich nach Verkleidungen an, vor allem, wenn ich beginne, alle möglichen Facetten beschreiben und bedenken zu wollen. Deswegen nehme ich hier einen neuen Anlauf und ziehe nur das Notwendigste an, passend zur Jahreszeit. Ganz nackt geht nicht, sonst würde hier nichts stehen oder vielleicht ein zarter Doppelpunkt und die Aufforderung an dich, wortlos zu fühlen, was ich dir mitteilen will.
In mehreren kurz hintereinander folgenden professionellen Begleitungen und freundschaftlichen Gesprächen – der Unterschied zwischen diesen beiden ist bei mir nicht besonders groß, weil das Schürfen nach Erkenntnissen und Einsichten offenkundig zu meinem Naturell gehört – wurde meinem jeweiligen Gegenüber offenbar, dass Eigenschaften, die er oder sie seit langer Zeit bekämpfen oder transformieren wollen, einen verdammt guten Grund haben und gar nicht „das Problem“ sind. Dieser Grund besteht darin, dass dieser Mensch etwas gar nicht wirklich will, was er bis dahin glaubte zu wollen.
Ist das noch zu kryptisch? Konkretes Beispiel: Wenn einer sich das ganze Leben vorwirft, zu faul zu sein und nicht nach mehr (Ruhm, Geld, Status…) zu streben und dann mit einem Mal erkennt, dass ihm, seinem tieferen Wesen, diese Ziele nicht wirklich wichtig sind, verändert sich seine „Faulheit“, „Bequemlichkeit“ oder „Antriebslosigkeit“ in … ja, was? Selbstschutz? Gesunden Widerstand gegen falsche Ziele? Er erreicht sein Ziel nicht deshalb nicht, weil er zu träge oder zu wenig zielstrebig ist – sondern weil er „eigentlich“ gar nicht da hin will! Das Phänomen ändert sich nicht, aber es ist eine völlig andere Interpretation, eine neue Selbstsicht — und ermöglicht eine neue Ausrichtung. Oder ein verwandtes Beispiel: Jemand schimpft sich selbst als mit zu wenig Selbstwert ausgestattet, um in ihrem beruflichen Feld auf „die große Bühne“ zu gelangen – bis sie erkennt, dass sie da gar nicht hin will, dass ihr der Preis dafür zu hoch ist, sie zum Beispiel nicht nach der Pfeife eines Regisseurs tanzen will, sondern das Stück selbst auf die Bühne bringen möchte. Ein drittes Beispiel, einer strebt danach, sich in seiner Beziehungsarbeit mit Menschen endlich besser zu schützen, nicht so dünnhäutig zu sein – und erkennt, dass gerade in dieser Feinfühligkeit seine größte Ressource liegt. Und dass es Mut braucht, sich in der eigenen Verletzlichkeit zu zeigen, dass dieser Mut vorhanden ist – und das Potential hat, das eigene Arbeiten auf eine neue Stufe zu heben. Das, was er bislang als Makel sah, wird zur Gabe – „nur“ durch eine veränderte Sichtweise.
Ist es jetzt klarer, was ich meine? So ein Mensch hat über viele Jahre sich selbst beschimpft und angetrieben und erkennt dann, dass er andere Begabungen, Werte und Ziele hat, als er angenommen hat. Ein gutes Stück seines Lebens kommt dadurch in Frieden. Er ist halb- oder viertelherzig einem Weg gefolgt, auf ein Ziel zugegangen, das von ihm weggeführt hat. Kein Wunder, dass er es nicht erreicht hat! Dies geschah nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke! Verwandt damit ist die Thematik anderer Menschen, die Ziele erreichen und davon immer wieder unbefriedigt bleiben. Sie streben alsgleich das nächste Ziel an, bis sie (endlich) erkennen, dass sie „eigentlich“ etwas anderes wollen.
Wie viele deiner besten Eigenschaften, Eigenheiten willst du seit vielen Jahren loswerden, aber es gelingt dir nicht?
Aber, Vorsicht: Das bedeutet nicht, einfach alles an dir selbst gut finden zu müssen, dir deine selbstdestruktive Verhaltensweisen auf ewig gefallen lassen zu müssen. Doch auch hier kann Licht ins Dunkle kommen: Diese Verhaltensweisen sind vermutlich „nur“ da, um die Bereiche deines Wesens zu schützen, die unter Dauerfeuer anderer Menschen und / oder dir selbst stehen. Auch diese dysfunktionalen Muster bekommst du (meist) nicht weg, indem du sie bekämpfst, sondern in dem du beginnst, dein dir Gegebenes in der Tiefe zu würdigen. Denn diese Verhaltensweisen versuchen, dich vor dir selbst zu schützen. Beweise ihnen, dass sie das nicht mehr müssen, und ein scheinbar unveränderbares Muster darf sich lösen, in dem es in ein wohlwollendes Feld eingebettet wird.
Und hier kommen wir zur wesentlichen Arbeit: Immer feiner unterscheiden zu lernen, was ist ein Schutz- und Abwehrmuster und was sind „ursprüngliche Bewegungen“! Dafür kann ein Gegenüber hilfreich sein. Ist das nun Eigenwerbung? Ja, weil ich diese Art der Erkundungs- und Erkenntnisarbeit von Herzen gerne tue!
Welche Eigenschaften und Eigenheiten als wünschenswert und liebenswert gelten, hängt „natürlich“ davon ab, in welcher Familienkultur du groß geworden bist. Ein lieber Bekannter von mir ist in einer Familie aufgewachsen, die Musik über alles liebt – und sein Berufsweg als Musiker wird von allen Mitgliedern der Familie mit Begeisterung unterstützt und gewürdigt. In allzuvielen anderen Familien würde der gleiche “Weg des Künstlers” mit Skepsis, Widerstand oder Abwertung begleitet werden. Die Folge davon ist, dass der oder die eine beim Musizieren, Schreiben, Gestalten oder Theater spielen gegen den inneren Eindruck ankämpfen muss, etwas Unwichtiges, Unwesentliches, Unnützes zu tun, während der andere sich getragen fühlen mag. Ich tue etwas mit Überzeugung und gutem Gewissen, während ein anderer das selbe mit schlechtem Gewissen und inneren Konflikten angeht. Hier geht es nicht ums Klagen, nicht einmal so sehr um Mitgefühl, sondern um eine klare Sichtweise.
Bei welchen Tätigkeiten empfindest du den Applaus deiner Ahnen, bei welchen fühlst du dich misstrauisch beäugt?
Da fällt mir ein, dass meine liebe Mutter (ich meine das ganz unironisch — hallo Maria und danke für deine vielfältige Unterstützung!) ab und an aufgestöhnt hat, dass ich „jedes Wort auf die Goldwaage legen” würde. Aus heutiger Sicht verstehe ich nicht nur, dass es mühsam sein kann, wenn jemand Aussagen „kleinlich“ auf ihre Substanz abklopft, sondern finde die Formulierung geradezu als Adelung. Ja, eine meiner Eigenheiten ist es, Worte auf die Goldwaage zu legen. Ist das nicht wunderbar? Vor allem, wenn es immer weniger mit „ich will dich ins Unrecht setzen“ einhergeht, sondern mit liebevollem Streben nach Wahrhaftigkeit.
Mit meiner Art des Arbeitens hadere ich auch seit Jahrzehnten: Mir fiel es stets schwer, „durchzuarbeiten“ oder im Takt zu werken. Das heißt, nach einer Phase des Tuns muss bei mir eine Phase der Rekreation folgen und diese kann durchaus ausgiebig sein. Und ich höre die Stimme in mir, die mir zuflüstert, wie viel ich weiterbringen würde, wenn ich nicht diese vielen “Pausen” bräuchte. Mittlerweile sehe ich, dass diese Verarbeitungspausen, diese Schöpfphasen zu meiner Art des Arbeitens dazu gehören und das ich eine Art von Schutz habe, der mich davor bewahrt, in Arbeitsfelder zu kommen, in denen es diese Pausen kaum oder gar nicht gibt. Allenfalls begleite ich solche Arbeitsfelder als Teamsupervisor und kann dort neue Sichtweisen beitragen — und hinterher erstmal eine ausgiebige Pause machen, bevor es “weiter geht”.
Ich übe zu unterscheiden, was „wirklich“ Prokrastination ist, was Angstmuster sind, die mich davon abhalten, mehr von dem zu tun, zu dem ich mich gerufen fühle – und was mein naturverbundenes Gefühl für stimmigen Rhythmus aus Arbeit und Muße, aus Ausdruck und Aufnahme ist. Ein Projekt, das ich initiiert habe, das wunderbare TAU-Magazin, hat es kaum einmal „geschafft“, mehr als zwei Ausgaben im Jahr zu produzieren und die Leser*innenschaft wächst langsam (aber doch! Ähnlich ist es bei diesem Substack-Kanal) – das ist kein Makel, das ist ein spürender, organischer Zugang. Soziale Netze wachsen langsam, wie es im sehr empfehlenswerten Buch “The Art of Asking” von Amanda Palmer heißt.
Damit betreten wir mehr und mehr die Ebene der kollektiven (westlichen) Kultur, die bei allen Unterschieden der Familienkulturen oder regionalen Kulturen Gemeinsamkeiten hat. Der WELTÜBERGANG, um den es auf diesem Kanal ja geht, beschäftigt sich mit KULTURTRANSFORMATION, also dem Erkennen der kulturellen Muster, die der Verwandlung bedürfen, auf unserem Weg entlang des Weltuntergangs hinein in ein neues Selbst- und Welterleben. Was sind diese übergeordneten kulturellen Muster, auf die wir geeicht wurden und die so selbstverständlich sind, dass es schwer ist, sie in den Blick zu bekommen?
Einiges, was ich erkennen kann hier in der Kurzform:
nicht anders sein als die anderen, aber besser
funktionieren, der Taktung der Megamaschine folgen, anstatt auf natürliche Rhythmen zu vertrauen
die Reduktion unserer Wahrnehmungsfähigkeit auf ein schmales Spektrum – Stichwort Konsensrealität oder Montagepunkt.
Zu dieser Ebene werden weitere Essays folgen, den dies ist der Kern des WELTÜBERGANGs. Hier bin ich nicht der Experte, nicht der Wissende, sondern der Neugierige, der Ahnende, der Erkundende. Hast du Lust, auf dieser Reise dabeizusein? Dann abonniere den Kanal und sag es weiter!
Zum Abschluss dieses Essays, jenseits oder diesseits der Worte, das Gefühl, bei all dem Ungelösten, mit sich selbst einverstanden zu sein. Jede und jeder hat das, du brauchst nur gut in dich hineinzulauschen.
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Hier geht`s zu meinen Büchern, “Wege durch die Angst” und “Weltübergang”!
[...]"Beweise ihnen, dass sie das nicht mehr müssen, und ein scheinbar unveränderbares Muster darf sich lösen"[...]
Das taucht auch in meiner Arbeit immer wieder als Knackpunkt auf und ich beschäftige mich gerade mit der Frage, wie dieses "Beweisen" genau funktioniert. Ich finde, es braucht so etwas wie Mut. Und ziemlich viel davon. Laurence Heller nennt es "embodied adult consciousness" oder "increasing psychobiological capacity". Ich lande immer wieder bei dem, irgendwie doofen, Satz: "Gefühle bringen mich nicht um".
Wir können unsere Gefühle (jetzt, als Erwachsene) aushalten, wahrnehmen, uns ihnen sogar zuwenden, wir müssen sie nicht - um jeden Preis - vermeiden. Aber es geht nicht darum jene Gefühle auszuhalten (meist Scham, Trauer oder Wut), die daraus entstehen, dass wir uns abtrennen von der Welt, aufgrund unserer Schutz- und Überlebensmechanismen, sondern es geht darum, jene auszuhalten, die mit dem In-Kontakt-Gehen oder In-Kontakt-Bleiben verbunden sind (meist eine tiefe Angst). Als ich selbst begann, mich das zu trauen, bekam der Begriff Mut für mich erstmals eine stimmige Bedeutung.
Jetzt als angehender NARM-Therapeut darf ich das zusätzlich auch in dieser Rolle üben und kultivieren, denn in einer herz-offenen, empathischen, zugewandten Beziehung, sind deine Gefühle fast genauso "beängstigend" wie meine eigenen und nur wenn ich sie aushalte, kannst du hier vielleicht lernen, sie auszuhalten. Wenn ich mich aber verleiten lasse, von meinen und deinen Impulsen, abzubiegen in diverse Bewältigungsstrategien, wie Rationalisieren, Etwas-Damit-Machen, Thema wechseln, Beschwichtigen, Ratschläge verteilen oder Gut-Zureden, dann bleibt der Raum verschlossen. Ja, Heilung ist ein Raum (Peter Bourquin). Ein Raum, den zu betreten zuerst mit so viel Angst und Scheu verbunden ist, und der sich dann doch so unglaublich richtig, stimmig anfühlt, wie, als wäre man endlich zu Hause angekommen. Es entsteht ein Gefühl, dass ich so, in dieser Tiefe zuvor kaum kannte: Freude. Was ich kannte war eher so etwas wie "freudige Erregung", aber hier entsteht eine tiefe, ruhige Freude, die unglaublich schön und nährend ist.
Es scheint mir so zu sein, wie Heller es in seinem, geplanten und dann doch nicht verwendeten Buchtitel, so treffend ausgedrückt hat: "Connection: Our Deepest Desire and Our Greatest Fear".
Liebe Grüße
Johannes
https://synergia-verlag.ch/leseproben/Leseprobe-Heilung-ist-ein-Raum.pdf
https://narmtraining.com/