Mangelndes Selbstwertgefühl wird meist als individuelles Problem empfunden. Ich wähle für diese Erkundung aber einen anderen Ausgangspunkt, der aus dieser vereinzelnden Wahrnehmung herausführt und dadurch auch bei einer Neubewertung der ganz persönlichen Ebene hilft.
Familienkulturen oder noch allgemeiner: Gemeinschaften des Lebens, Wohnens, Arbeitens sind Mikro-Kulturen. Wenn mensch wo neu hinzukommt als Außenstehender – und als Moderator und Supervisor von Team- und Organisationsprozessen darf ich das immer wieder erleben – ist es faszinierend wahrzunehmen, wie unterschiedlich die Formen des Umgangs sind, was als üblich gilt, was als unangemessen, welche Antworten sich auf die Fragen des Alltags etabliert haben. Aber trotz all dieser Unterschiede hat unsere Kultur als Gesamtes kollektive Muster dessen herausgebildet, was geschätzt wird, was als erstrebenswert gilt, was als unwichtig gilt und was herabgewürdigt oder gänzlich ausgeblendet wird. Und mit genau diesen Wertungen bekommt es jeder Mensch nicht nur im Außen sondern auch in sich massiv zu tun, wenn er oder sie am Kulturwandel mitwirkt.
„Selbstverrat ist die Eintrittspreis, den man für gesellschaftlichen Erfolg zahlen muss“, so hat es ein lieber Freund und Kollege von mir in einem Gespräch vor kurzem auf den Punkt gebracht. Deswegen, so lässt sich folgern, bekommt mensch es mit Selbstwertzweifeln zu tun, je mehr man sich sich selbst und dem Selbst zuwendet und dadurch gesellschaftlich vorgebahnte Wege verlässt, gerade weil das oft schlecht belohnt oder unbelohnt ist. Es ist daher gut, sich klar zu machen, dass Selbstwertzweifel, auch sehr massiver Natur, dazu gehören, gerade wenn mensch sich wirklich in der Tiefe auf den Kulturwandel einlasst, der immer deutlicher ruft. Mit meiner Arbeit will ich dieses Thema von der Scham befreien, das es im „Privaten“ hält.
Es ist eine perfide Situation, in der das, was uns trennt und in Vereinzelung führt, im Grunde das ist, was alle oder viele teilen: die Erfahrung, den Erfolgskriterien nicht zu genügen, den Eindruck, nicht gut genug zu sein. Dies ist dennoch kein Aufruf zum Kampf gegen gesellschaftliche Normen, die uns aufgezwungen worden sind, weil das ja auch wieder spaltendes Denken ist. Sondern eine Einladung zu einem Intimwerden mit sich selbst, mit den ungeliebten und ungesehenen und in diesem Sinne verwundeten Anteilen in uns und mit den Anteilen und Stimmen in uns, die oft massiv und höchst selbst-kritisch auf dem Erreichen sozialer Normen bestehen! Begleitet sein dürfen wir dabei von der Erkenntnis, dass jeder und jede in diesem sich-selbst-nahe-kommen auch den kollektiven Grundfesten nahekommt und sie dadurch in Transformation bringt.
Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.
Heimito von Doderer: Ein Mord den jeder begeht (1938)
Bildlich lässt dich das fassen als das Gewahrwerden (m)eines Innenraumes und der „Gespräche“, die darin vor sich gehen zwischen unterschiedlichen Bewohnern und Bewohnerinnen. Vor allem ist es ein spürendes Lauschen, welche Emotionen sich da bewegen, angerührt sind oder vermieden werden. Dieses spürende Erkunden des eigenen Innenraumes ist am wirkungsvollsten und einfachsten, je mehr es mit dem alltäglichen Erleben verbunden ist. Die Ereignisse und Emotionen des Alltags sind DAS naheliegendste Material für das spürende Erkunden. Hier gilt: Je einfacher und naheliegender, desto besser und lebendiger. Anders gesagt: Das spürende Erkunden IST der Raum, IST die Haltung, die aus dem alltäglichen Erleben und Erleiden bewusst erlebtes seelisches Wachsen macht. Das spürende Erkunden des Innenraumes fügt unserem Alltag hinzu, was als heilsam, als Ganzwerden oder Selbstwerdung beschrieben werden kann. Mir geht es dabei nicht um eine Art von meditativer Innenschau, die sich abspaltet von dem Erlebten, sondern einer, die dieses Erlebte tiefer durchdringt, durchfühlt! Die immer feiner differenzieren kann, was mir da gut tut und was nicht.
Faszinierend: Genau diese Haltung sich selbst gegenüber, GENAU DIESER RAUM IST ES, der in der Sozialisation der noch dominanten Kultur wenig bis keine Wertschätzung erfährt. (Fast) alles in Erziehung und öffentlichen Diskursen sagt: Geh weg von dir, Zeit für Introspektion ist nichts wert, einfach nur spürend sein ist kein Beitrag zu einer gesunden gesellschaftlichen Entwicklung. Erfolg zeigt sich durch Sichtbarkeit, Status, Finanzen, Wirksamkeit, durch messbarem Output und Impact – und das gilt in weiten Teilen auch für alternative, spirituelle, nachhaltige oder wie auch immer etikettierte Szenen. Auch hier ist die Botschaft oft, wenn auch verdeckter: Orientiere dich am Außen und beeinflusse dieses Außen in möglichst großem Ausmaß, dann bist du wertvoll, ist dein Tun wertvoll. Sei aktiv, lebe dein Potential!
Oder anders formuliert: Es entsteht leicht der Eindruck, dass, wenn du dich auf deinen ureigenen Weg machst, sofort“ positive Bestätigung von außen kommen muss – Applaus, Zaster, Reichweite. Und wenn das nicht oder nur eingeschränkt der Fall ist, nagen die Zweifel.
So gesehen ist diese Art von “invisible Work” noch weniger geschätzt und in Wert gesetzt, als die sogenannten “Care-Arbeit”. Beides sind Tätigkeiten, ja Lebensweisen, die die Grundlage des Lebens wieder und wieder und wieder neu knüpfen und bereitstellen. Beide sind (meist) schlecht belohnt, werden als selbstverständlich gesehen oder gänzlich unsichtbar gemacht, während destruktive Tätigkeiten häufig mit Geld und Aufmerksamkeit überschüttet werden.
Den Umkehrschluss, das gesellschaftliche Anerkennung, finanzieller Erfolg und Zuspruch ein Zeichen für Selbst-Entfernung ist, halte ich für falsch. Aber solange vor allem auf diese Maßstäbe geschaut wird, sind wir noch den Werten verpflichtet, die wir „eigentlich“ wandeln wollen. Verwechseln wir „Katzengold“ mit seelischer Essenz.
Ich schreibe das für Menschen, die immer wieder in diesem Sinne an sich selbst zweifeln und die immer wieder selbst - oft gegen besseres inneres Wissen - jene Bereiche marginalisieren, verkleinern und unsichtbar machen, gerade auch im Innenraum, die „unproduktive“ Zeit des Spürens, Lauschens und Seins erfordern – die sich aber doch von diesen Bereichen angezogen fühlen und spüren, dass da etwas ruft, gesehen werden will, Zeit und Aufmerksamkeit braucht, wesentlich ist. Die unmittelbare Belohnung liegt nämlich hier: die Innenwelt und ebenso die Außenwelt als lebensvolles, sich aufeinander immer wieder neu einstimmendes Orchester zu erleben und nicht länger als eine leblose Mechanik. Was für ein Geschenk!
Sich dem, was ungeliebt und ungesehen ist, in sich zuzuwenden, könnte man in diesem Sinne als revolutionäre, jedenfalls evolutionäre Bewegung benennen. Und diese Zuwendung ist erst der Anfang der Reise, in der mehr und mehr Wirklichkeiten Relevanz und Wert erhalten, die in der „Konsens-Realität“ als unwesentlich oder nicht einmal vorhanden bewertet werden. Auf dieser Reise können wir mit der geistigen oder vielleicht besser gesagt mit der grundlegenden, der natürlichen Welt, deren Teil wird sind, in tiefere Verbindung treten und uns selbst in unserer Einbindung und unserer feinen Wahrnehmungsfähigkeit erfahren – und dabei darf es uns immer gleichgültiger werden, wie das von anderen Menschen bewertet wird, ob das auch für andere real und wichtig ist.
Selbstbereicherung durch Spüren anstelle von Selbstausbeutung!
Das Risiko, sich dabei ab und an auch in Illusionäres, in Hirngespinste zu verstricken, ist es wert eingegangen zu werden, weil gerade auch durch scheinbare Irrwege klarer wird, was wirklich trägt und was nicht. Je mehr ich mich auf diese Weise auf mich selbst und all meine Anteile und Zugänge und Verbindungen einlasse und erkunde, was mir wesentlich und tragfähig ist und was nicht, desto besser kann ich auch im Außen unterscheiden, was lebensförderlich und was lebensfeindlich ist.
In der nächsten Folge meines Podcasts (Wiederbelebungsimpulse), hier auf diesem Substack-Kanal WELTÜBERGANG wirst du kommende Woche eine kurze Erzählung zu der Gratwanderung aus „Funktionieren“ und „Versagen“ hören können – falls du noch kein Abo hast, bist du herzlich dazu eingeladen, dir jetzt eines zu holen. Das Buch, aus dem die Geschichte stammt, Wege durch die Angst, kannst du dir hier bestellen. Und falls du kompetente Begleitung auf deinem Weg zu dir selbst suchst, kannst du hier ganz einfach Kontakt zu mir aufnehmen.
Spürend den Innenraum zu erkunden, guter Gastgeber, gute Gastgeberin für sich selbst – und so auch für andere zu werden – orientiert sich nicht an gesellschaftlichem Status im üblichen Sinne. ABER – es geht dabei nicht darum, sein Licht unter den Scheffel zu stellen und sich nach außen in Sack und Asche zu kleiden. Leuchten ist ausdrücklich erlaubt!
Schön, dass du Teil des Weltübergangs bist! Alle meine Beiträge auf diesem Kanal sind kostenfrei. Wenn du mich und meine Arbeit finanziell unterstützen möchtest, kannst du das durch ein bezahltes Abo hier tun oder über eine Überweisung auf mein Konto. Jeder Betrag ist willkommen. Ganz herzlichen Dank!
Michael Nußbaumer
IBAN: AT47 1420 0200 1188 3436
Danke dir 🧡
Danke gleichfalls herzlich!